
Every Step I Take – Sarah stellt sich vor
Hallo, ich heiße Sarah. Seit über einem halben Jahr dränge ich mich in Belindas Gedanken, damit sie meine Geschichte für dich aufschreibt. Meistens verstehen wir uns gut, aber manchmal reiben wir uns so aneinander auf, dass sie tagelang nicht mit mir sprechen will. Ich bin schwierig behauptet sie immer wieder und ich verstehe, warum sie so denkt.
Unsere gemeinsame Geschichte begann, als Belinda mich in den knochigen Körper einer Mittdreißigerin steckte. Außerdem fand sie, dass rotblondes, streng zurückfrisiertes Haar und Sommersprossen, die sich unter einer dicken Schicht Make-Up verstecken, gut zu mir passen würden. Mein Gesichtsausdruck sollte verschlossen sein, meine Haltung aufrecht und meine Sprache überkorrekt. Dazu trug ich klassische Businesskleidung in dezenten Farben.
Siehst Du mich schon vor Dir? Wie ich im nachtblauen Kostüm auf Stöckelschuhen die Straße entlang marschiere? Mit meiner Designertasche und einem leise klimpernden, diamantenbesetzten Armband am Handgelenk?
Genau, das bin ich und jedes einzelne Vorurteil, das Dir jetzt im Kopf herumschwirrt ist zumindest teilweise wahr. Ich bin eine erfolgsverwöhnte Karrierefrau, schlau und unnachgiebig. Wenn ich etwas erreichen will, werde ich solange nicht aufgeben, bis ich es habe. Das ist normalerweise alles, was andere von mir wissen dürfen. Aber Belinda besteht darauf, dass ich Dir erzähle, was sich hinter meiner Maskerade versteckt.
Schon als Fünfjährige begann ich zu ahnen, was im Leben wirklich wichtig ist. Als ich meinen Eltern voller Stolz ein selbst gemaltes Bild überreichte, tätschelte mir meine Mutter nur mit einem gezwungenen Lächeln den Kopf. Mein Vater brummte bedrohlich, weil ich ihn beim Lesen der Börsennachrichten störte. Schon am nächsten Tag fand ich die Zeichnung im Mülleimer. Oben auf, als wollten sie nicht einmal vor mir verstecken, dass sie sie hassten.
Zum Glück war ich ein kluges Mädchen und bald verstand ich, womit ich mir ihre Liebe sichern konnte. Was für andere Kinder ihr Geburtstag war, wurde für mich der Zeugnistag. Und als ich mein Abitur als Klassenbeste mit einem Notendurchschnitt von 1,0 bestand, hatte meine Mutter Tränen in den Augen. Mein Vater nahm mich zum ersten Mal in den Arm und drückte mich so fest, dass mir der Atem stockte. Der Stolz in seinem Blick war die Belohnung für alles, was ich auf den Weg dahin geopfert hatte.
Sie liebten meinen Erfolg. Und endlich liebten sie auch mich!
Mit den Jahren wurde ich so süchtig nach ihrer Anerkennung wie nach einer Droge, von der es immer mehr braucht um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Kein Wunder, dass ich heute in einem Teufelskreis feststecke, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.
Es ist absurd, aber egal, wen ich fragen würde, jeder würde mir sofort ein uneingeschränkt gutes Leben attestieren. Ich habe alles was ich brauche, Geld, Erfolg, ein schönes Zuhause und einen gut aussehenden Mann an meiner Seite.
Aber hinter diesem „alles“, das wie eine wunderschön anzusehende Fassade an der Vorderseite meines Lebens prunkt, ist nicht mehr viel übrig.
Wenn ich morgens aus der Dusche komme, bleibt mein Blick an meinem Spiegelbild hängen. Ich mustere meinen viel zu dünnen Körper und zupfe an den Locken, die wild durcheinander über meine Schultern fallen. Ich hasse sie, genauso wie die Sommersprossen auf meiner Nase. Ohne all das Makeup, die glatte Frisur und die passende Kleidung sehe ich aus wie Pippi Langstrumpf. Lächerlich, naiv und unprofessionell.
Niemand auf dieser Welt könnte mich so sehen, nackt von oben bis unten, und mich dennoch lieben.
Also verstecke ich meine Makel, die offensichtlichen und auch die, die man mit den Augen nicht erfassen kann.
An vielen Tagen kann ich damit sogar mich selbst täuschen. Aber wenn ich wie heute, umgeben nur von Stille und dem Duft von frischem Kaffee hier am Fenster stehe, überfällt mich eine Sehnsucht. Danach so sein zu können, wie ich bin. Ich will Schwäche zeigen dürfen, wenn mir die Stärke verloren geht und andere sehen lassen, was mir auf der Seele brennt.
Aber noch vor allem anderen wünschte ich, ich wäre glücklich.